Familie und Wohnen - Veränderungen, Probleme, Möglichkeiten

Häuser und Wohnungen sollen den Bedürfnissen ihrer Bewohner Raum schaffen. Häuser und Wohnungen können aber durch vorgegebene Strukturen das Leben entscheidend beeinflussen.

Wohnungen und Bewohner beeinflussen sich gegenseitig

Zeitgeist, gesellschaftliches Umfeld, regionale Situation u.ä. bestimmen, was unter den Begriffen „Wohnen" und „Familie" jeweils verstanden wird und welche Personen und Funktionen damit in Zusammenhang gebracht werden.
Während in Agrargesellschaften Menschen vor allem deshalb zusammenleben, weil sie zusammen ihre Lebensgrundlage erarbeiten, wurde in Europa ab dem 18. Jahrhundert Arbeit und Gewerbe ebenso wie gesellschaftlicher und geselliger Umgang zusehends aus dem Bereich der Wohnung ausgegliedert. „Wohnen" wurde zum Ort der Familie, zum Ort der Intimität und der „Nicht - (Erwerbs) Arbeit.
Obwohl es auch früher durch das Älter- werden und durch das Hinzutreten und Ausscheiden neuer Mitglieder zu Veränderungen kam, wies die Abfolge der Lebensphasen keine großen individuellen Unterschiede auf. Eine bestimmte Art des Miteinander-Umgehens, gleichförmige Beziehungsstrukturen und Aufgabenverteilungen von Mann und Frau - und eine gleichbleibende Struktur der Wohnung - konnten sich günstig für die Familien auswirken.

Veränderung der individuellen Lebensgestaltung

Längere Lebenserwartung, längere Ausbildungszeiten, geringere Kinderzahl, Phasen der Erwerbstätigkeit der Frau wechselnd mit Phasen der häuslichen Kinderbetreuung bewirken heute, dass der persönliche und familiäre Lebenszyklus einem stärkeren Wandel ausgesetzt ist. In den verschiedenen Lebensphasen müssen jeweils sehr unterschiedliche (Wohn-) Bedürfnisse erfüllt werden. Unterschiedliche Lebenskonzepte und Familienformen verlangen die Fähigkeit, Alltagsgepflogenheiten immer wieder neu zu definieren und neue Bewältigungsmodelle zu entwickeln.
Die heute geforderte Flexibilität im Verhalten und in der Art, miteinander umzugehen, wird durch den modernen Wohnungsgrundriss eher erschwert als erleichtert. Durch fixierte Möblierung (Einbaumöbel, Verblendungen) kommt es zu einer nochmaligen Verfestigung der durch die Anlage und Größe der Räume vorgegebenen eingeschränkten Verhaltensmöglickeiten. (Einbaukästen können nicht einfach umgestellt, Räume für Erwachsene nicht für Kinder umgewidmet werden.) Bei älteren Kindern und vor allem in der Phase der Ablösung von Jugendlichen kann eine Raumverteilung, die für die kindererziehende Jungfamilie mit hohen Idealen an Gemeinschaft Modell stand und nützlich war, problematisch werden. Gemeinschaftliche Wohnbereiche (ein großes zentrales Wohnzimmer als hauptsächlicher Aufenthaltsort) ermöglichen Gemeinschaft nicht nur, sondern erzwingen sie auch. Wo Gemeinschaftsraum ist, kann nicht gleichzeitig Privatraum sein (um etwa ungestört und unstörbar außerfamiliäre private Sozialkontakte mit eigenen Freunden pflegen zu können).

Wichtig ist: Raum für Anpassungsfähigkeit

Die Unterschiede zwischen den Familienformen sind heute so groß, dass es unmöglich ist, eine einzige Art Wohnung oder Wohnumgebung zu schaffen, die für alle Familien in den verschiedenen Phasen des Lebenszyklus passt. (Kleine Kinder, heranwachsende, Hausfrauen/-männer, erwerbstätige, Alleinerziehende, „Stieffamilien“, Lebensgemeinschaften, Familien mit Behinderten, Ausländerfamilien usw. brauchen jeweils andere räumliche Strukturen, um sich in ihrer spezifischen Eigenart entfalten zu können.)
Es wird deshalb günstig sein, Wohnungen mit Grundrissen zu planen, die genügend abstrakt bleiben, damit sehr unterschiedliche Familien im Verlauf verschiedener Wohnphasen, bei Beachtung von sowohl Nähe- wie auch Distanzierungsbedürfnissen, darin wohnen können. Räume sollten in ihrer Bestimmung ohne große Umbautätigkeiten und -kosten veränderbar sein.
Es sollte jedoch erwähnt werden, dass sich erst durch das Wohnverhalten zeigt, wie viel Wohnfläche z.B. für die Kinder tatsächlich zur Verfügung steht. Entscheidend ist hierbei, wie viele der allgemeinen Flächen der Wohnung sie (mit) benützen dürfen bzw. wie viele Flächen vorwiegend der Repräsentation dienen.

Veränderungen des Verhältnisses zwischen Privatheit und Öffentlichkeit

Menschen grenzen im Allgemeinen ihren engsten Wohnbereich durch Zäune, Wände Schlösser oder ähnliches gegenüber der Umgebung ab und markieren damit ihr „Revier". Wie in jedem Revier gibt es auch in den Wohnungen und Häusern mehrere neutrale Zonen, in die Fremde ohne größere Konflikte eindringen können (Vor-, Wohnzimmer, Garten) und Bereiche, die als sehr privat erlebt werden (Schlaf-, manchmal auch Badezimmer, Inhalt von Kästen oder Laden).
Doch auch innerhalb der Familie kommt es oft zu großen Verständnisschwierigkeiten, wenn das Bedürfnis nach einem eigenen Bereich, nach einem Ort, in den selbst der Ehepartner oder die Kinder nicht eindringen können und über den man alleine bestimmen darf, laut wird. Der Bereich der Wohnung wird meist als Gemeinschaftsbesitz betrachtet und der ausschließliche Wunsch nach Verfügbarkeit ausgewählter Plätze (Schreibtisch, lehnsessel, Tischplatz, Spielecke …) als Egoismus gebrandmarkt.
Gerade in einer Großstadt wird der Mensch in seiner Fähigkeit zu sozialen Kontakten jedoch oft dauernd überfordert. Probleme entstehen meist dort, wo der Wunsch nach persönlicher Distanz bei den betroffenen Personen von vornherein oder situationsbedingt unterschiedlich groß ist, so dass z.B. der eine Partner, der den ganzen Tag allein war, oder das Kind mit einem gewissen Mangel an sozialem Austausch nach Kontakt suchen, während der andere, stressgeplagte, in einem größeren Betrieb arbeitende Teil Distanz benötigt. Gerade in diesem Zusammenhang üben Forderungen nach unbedingter Harmonie und Nähe einen oft untragbaren Druck auf die betroffene Person aus. Das Recht auf Distanzierung, selbst von einem kontaktsuchenden Partner, kann aber eine große Hilfe für spätere, bessere Kontakte sein.
Heute entwickelt sich teilweise ein gewisses Interesse, die private Sphäre gegenüber der Nachbarschaft zu öffnen (Gemeinschaftsräume in Wohnbauten, Nachbarschaftshilfe, Wohnprojekte). Dieses Durchlässigwerden der Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit geht allerdings mit einer sehr genauen Auswahl der Nachbarn, mit denen man Kontakt haben möchte, einher. Gewünscht wird eine Wohnung in einem Haus, dessen übrige Wohnungen dann von „Freunden" bewohnt sind, quasi also eine abgetrennte Privatsphäre innerhalb einer befreundeten Nachbarschaft.

Andererseits scheint sich auf einer anderen Ebene eine neue Grenze des Privaten innerhalb der Familie zu bilden, um den Individualbereich des einzelnen gegen die übrigen Haushaltsmitglieder abzuschirmen. (Eigene Räume, (Arbeits-) Plätze, Rückzugsgebiete werden zunehmend nicht nur Kindern zugestanden, sondern auch zum Beispiel von weiblichen Haushaltsmitgliedern gewünscht). Dies ist durch die kontinuierliche Verbesserung der Wohnsituation der Familien, insbesondere Wohnungsgröße und Ausstattung, zumindest in manchen Bevölkerungsschichten eher möglich geworden.

In jeder Wohnung, jedem Wohnhaus und jedem Wohngebiet sollte für alle Altersgruppen ein ausgewogener Wechsel zwischen Alleinsein und Kontaktnahme je nach dem persönlichen Bedarf möglich sein. Nachbarschaftskontakte, aber auch Kontakte innerhalb der Familie dürfen dabei nicht zur Zwangsbeglückung werden - der Vielzahl der Bedürfnisse kann auch hier nur durch eine Vielfalt unterschiedlicher Wohnformen und Möglichkeiten entsprochen werden.

Veränderung des Wohnumfelds

Obwohl sich die Wohnsituation im Vergleich zu früher verbessert hat, leben vor allem kinderreiche Familien mit niedrigem Einkommen und Alleinerziehende immer noch in Wohnungen, die nach dem gestiegenen allgemeinen Standard bewertet immer schlechter erscheinen müssen. Hinzu kommt, dass die sozial schwachen Haushalte und Familien in Wohngebiete mit schlechterer Wohnqualität verdrängt werden. Während zum Beispiel Familien, die an den Stadtrand ziehen (können), auf diese Weise ihre Wohnsituation verbessern, sind Familien, denen diese Möglichkeit nicht offen steht, den nachteiligen Wohnumweltbedingungen noch mehr ausgesetzt. In Stadtgebieten mit älteren. Mietshäusern, wo als Folge des erhöhten Verkehrsaufkommens Grünflächen und Spielflächen für die Kinder wegfallen und nur wenige Alternativen geboten werden, tritt eine deutliche Verschlechterung der Situation ein.

Untersuchungen haben gezeigt, dass etwa Vorschulkinder, denen ein räumlich daher Spielort nicht zur Verfügung steht, die keinen persönlichen Bereich haben, den sie selbstverantwortlich gestalten können, die an einer stark verkehrsbelasteten Straße oder in „überalterten" Wohnquartieren wohnen, weniger Spielkontakte mit anderen Kindern haben und damit auch weniger Chancen, Eigenständigkeit zu entwickeln. Oft unternehmen die Eltern unterschiedliche Anstrengungen zum Ausgleich von Benachteiligungen (Einladen der Freunde ihrer Kinder, Fahrten ins Grüne oder zu Veranstaltungen) - und werden dadurch auch (zeitlich und kostenmäßig) belastet.

Doch auch am Stadtrand kommt es durch die Wohnbautätigkeit vor allem in Ein- und Zweifamilienhaussiedlungen (aber auch bei verdichteten Flachbauten, wo diese überhand nehmen) zu einer Zersiedelung und Versiegelung des Bodens und damit zu einer Zerstörung der naturnahen Flächen (die gerade für ältere Kinder und Erwachsene eine erhebliche gemeinschaftlich nutzbare Erholungsmöglichkeit darstellen). Die Folgen einer allzu verstreuten räumlichen Verteilung der Wohnbauten sind mannigfaltig (Auflösung der Stadtränder, Zerstörung der stadtnahen Natur, Anschwellen des stadtnahen Verkehrs und so weiter).

„Dritte Haut" nicht Architekten und Politikern überlassen

Wenn eine als „lebenswert" erlebte (auch naturnahe) Wohnumwelt in Zukunft erhalten, andererseits jedoch die Wohnqualität für alle Familien in allen Lebensphasen verbessert werden soll, wird es nicht genügen, die Wünsche nach mehr Wohnfläche und mehr Einfamilienhäusern zu erfüllen. Siedlungsentwicklungen, die ein erhöhtes Verkehrsaufkommen bewirken können, müssen vermieden werden. Verdichtung (mehr Wohnungen auf weniger Fläche) ist notwendig - wo jedoch mehr Verdichtung stattfindet, muss mehr Platz für Freiflächen geschaffen werden, die für Angehörige aller Altersstufen zu Fuß erreichbar sein sollen. Die Freiräume sind möglichst naturnah zu belassen beziehungsweise zu gestalten (Vermeidung des „sauberen grünen Rasens" zwischen Hochhäusern). Günstig sind für jüngere Kinder ein differenziertes Erlebnisangebot im Wohnumgebungsbereich sowie Kontakt- und Entscheidungsspielräume, die es dem Kind ermöglichen, Beschäftigungsart und Spielpartner zu wählen. Verwilderte Baulücken und sonstige „Restflächen" sind besonders für ältere Kinder ideale Spielgebiete, die ihnen vermehrt zugänglich gemacht werden sollten. (Je „schlampiger" eine solche Freifläche aussieht, je mehr so genanntes „Unkraut" auf ihr wächst, desto mehr Spiel- und Erlebnismöglichkeit bietet sie!)
Die Frage steht im Raum, welche Hoffnungen und Erwartungen mit dem oft geäußerten Raum von einem „Einfamilienhaus" oder einer „großen Wohnung" verknüpft werden, welche Probleme damit leichter lösbar, welche - persönlichen und familiären - Wünsche eher erfüllbar scheinen. Wohnzufriedenheit lässt sich anscheinend auch mit halbwegs durchschnittlichem Wohnaufwand in der Stadt bzw. in mehrgeschossigen Wohnhäusern erzielen, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind (Grünflächen, Gemeinschaftsräume, gestaltbare Terrassen und Balkone und so weiter).

Was macht das Einfamilienhaus, die große Wohnung so besonders attraktiv? Was soll zu welchem Zeitpunkt, in welchem Alter, Lebens- oder Berufsstand darin möglich sein?

Wie könnte sich dasselbe auch noch anders verwirklichen lassen?

Es ist notwendig, dass die Familien selbst neue Ideen, neue Möglichkeiten entwickeln - und nicht alles was ihre persönliche „dritte Haut" betrifft, den Architekten und den Politikern überlassen.

Sabine Klar